Quo vadis, Oder? Die deutsch-polnische Wasserstraße im Jahr nach der Umweltkatastrophe
Dieser Artikel erschien zuerst im Newsletter 1/23 der Oder-Partnerschaft
Kaum ein Jahr ist es her, dass ca. 400 Tonnen Fisch in der Oder und ihren Zuflüssen tragisch verendeten. Nach dieser beispiellosen Umweltkatastrophe herrschen weiterhin hitzige Debatten rund um den Zustand der Oder sowie den von der polnischen Regierung begonnenen Ausbau. Tatsächlich begannen die Kontroversen um den Oderausbau auf der polnischen Flussseite bereits lange vor der Oderkatastrophe im Sommer 2022. Im Jahr 2020 hatten polnische Behörden eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung zum Ausbauvorhaben durchgeführt und im Ergebnis einen sogenannten Umweltbeschluss vorgelegt. Gegen diesen legten anschließend mehrere Umweltorganisationen sowie das brandenburgische Umweltministerium Widerspruch ein.
Nachdem auch im August 2022 von der polnischen Umweltbehörde mit Abschluss des Widerspruchsverfahrens weder auf die aktuelle Situation des Flusses im Zuge der Katastrophe noch auf die umweltrechtlichen Bedenken der Gegner*innen des Vorhabens eingegangen wurde, klagten ein Zusammenschluss von deutschen und polnischen Umweltverbänden sowie das Brandenburger Umweltministerium. Ein Verwaltungsgericht in Warschau hat im Zuge der Klage deutscher und polnischer Umweltorganisationen Anfang Dezember 2022 die sofortige Vollziehung des polnischen Umweltbeschlusses für die aktuellen Baumaßnahmen auf polnischer Seite aufgehoben, was einem „Baustopp“ gleichkommt.
Die Begründung für diese gerichtliche Eilentscheidung war, dass das Gericht nicht ausschließen konnte, dass durch die aktuellen Bauarbeiten irreversible Umweltschäden entstehen. Dagegen haben die zuständige polnische Umweltbehörde und der staatliche Vorhabenträger Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht in Polen eingelegt. Anfang April 2023 bestätigte dieses nunmehr die Entscheidung aus erster Instanz, wonach die Oder bis zur Entscheidung im Hauptverfahren theoretisch nun nicht weiter am polnischen Oderufer ausgebaut werden darf – praktisch gehen die Bauarbeiten jedoch trotz dieses Gerichtsbeschlusses weiter.
Hochwasserschutz oder Binnenmarktvorteile
Laut dem polnischen Wasseramt sollen die Arbeiten, die im März 2022 begannen, den Hochwasserschutz an der Oder verbessern. Im Winter sollen Eisbrecher auf der Oder fahren und durch das Aufbrechen des Eises Hochwasser präventiv verhindern. Hierfür soll die Fahrrinne der Oder vertieft und der Fluss verengt werden. Durch diese Verengung steigt die Fließgeschwindigkeit, wodurch Eisbrecher mit mehr Tiefgang fahren können – im Falle des geplanten Ausbaus eine Erhöhung des Tiefgangs auf 1,80 Meter. Damit würde die Wasserstraße auch von einer Kategorie zwei auf eine Kategorie drei hochgestuft werden – sozusagen von einer Landstraße zu einer Autobahn.
Das vorrangige Ziel der Hochwasserbekämpfung wird von Umweltorganisationen wie dem BUND sowie von der für die deutsche Seite zuständigen Brandenburger Umweltverwaltung jedoch angezweifelt; durch die Verengung der Oder könne das Hochwasserrisiko sogar steigen. Auch bestünde die Gefahr, dass die Auen entlang des Flusses austrocknen. Die geplante Vertiefung und Begradigung der Oder könne nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben, sondern auch die Lebensgrundlage von Fischern und Landwirten entlang des Flusses gefährden. Kritiker*innen bemängeln außerdem, dass das Projekt nicht im Einklang mit EU-Recht und internationalen Abkommen stünde, die den Schutz von Flüssen und Flusslandschaften vorsehen. Das eigentliche Ziel der polnischen Nationalregierung sei viel mehr, die Oder bis 2030 zu einer Europäischen Wasserstraße auszubauen und auf diese Weise die Binneninfrastruktur für Polen zu verbessern – wenn nötig auch auf Kosten der Umwelt.
Gegenmaßnahmen zur Wiederherstellung der Oder wurden eingeleitet
Die aktuelle Bestätigung des Obersten Verwaltungsgerichts zum „Baustopp“ wird von Umweltschützern und Naturschutzverbänden, die sich seit Jahren gegen den Ausbau der Oder zur Wasserstraße engagieren, dementsprechend begrüßt. Sie fordern eine ökologisch nachhaltige Bewirtschaftung des Flusses und eine Wiederherstellung seiner natürlichen Dynamik. Florian Schöne, Geschäftsführer des Umweltdachverbands Deutscher Naturschutzring (DNR), kommentierte den gerichtlichen Beschluss wie folgt: „Das Ergebnis des Gerichtsbeschlusses ist ein großer Erfolg für die natürliche Vielfalt der Flusslandschaft Oder und auch für die Menschen am naturnahen Strom, die schon heute mit den Auswirkungen der Klimakrise wie Dürre und Niedrigwasser konfrontiert sind. Die Bauarbeiten auf polnischer Seite müssen nun unverzüglich gestoppt werden.“
Die Wojewodschaften Oppeln (Opolskie), Niederschlesien (Dolnośląskie), Lebuser Land (Lubuskie) und Westpommern (Zachodniopomorskie) hatten derweil unmittelbar nach der Umweltkatastrophe eine gemeinsame Vereinbarung aufgesetzt, die Maßnahmen zum Wiederaufbau des Flussökosystems Oder vorsieht. Zu den Maßnahmen zählen etwa die Einberufung eines überregionalen Expertenteams zu Untersuchungszwecken, eine Abschätzung der Schäden, eine Analyse des Wasserrechts sowie die Entwicklung eines Programms, das wissenschaftliche Empfehlungen als Grundlage für den Wiederaufbau heranzieht. Berliner und Brandenburger Forschungsinstitute werden in die Erstellung eines Maßnahmenplans für die Oder einbezogen, die Koordinierung liegt hier beim Brandenburger Umweltministerium.
Verfehlte Wasserwirtschaft wird als Hauptauslöser erachtet
Unterdessen bestehen weiterhin verschiedene Meinungen zu den Auslösern der Oderkatastrophe im Sommer 2022, die damit begann, dass Angler bei Breslau (Wrocław) ungewöhnlich viele tote Fische im Fluss entdeckten. Bald darauf wurden Vermutungen laut, dass der Fluss vergiftet wurde. Die polnische Regierung behauptete jedoch, dass die hohe Anzahl toter Fische auf natürliche Faktoren zurückzuführen sei, wie beispielsweise auf das warme Wetter und das dadurch begünstigte Wachstum toxischer Algen.
Wasserexperten widersprachen dieser Aussage und gaben stattdessen einer verfehlten Wasserwirtschaft in Polen die Schuld, die wirtschaftliche Interessen über ökologische Belange stelle. Modernisierungsmaßnahmen wie die Begradigung der Ufer oder die Vertiefung des Flusslaufs würden ohne Berücksichtigung ihrer ökologischen Folgen durchgeführt. Abwassereinleitungen fänden ohne wirksame Kontrollen statt und der Düngemitteleinsatz in der Landwirtschaft habe sich vervielfacht.
Die exakten Gründe für das Fischsterben sind nach wie vor unklar. Ein denkbares Szenario ist jedoch, dass im Sommer 2022 ein chemischer Cocktail aus Abwasser, Dünger und Salz in der Oder entstanden ist, der dazu geführt hat, dass der Fluss diesen Umständen nicht mehr standhalten konnte. Die Abwassereinleitungen sind nicht auf die aktuellen Wetterbedingungen und den tatsächlichen Durchfluss des Flusses abgestimmt, sondern richten sich nach einem Durchschnittswert. Dadurch konnten Unternehmen und Betriebe, überwiegend aus dem Bergbau, auch bei niedrigem Wasserstand weiterhin Abwässer in die Oder einleiten, was zur Verschlechterung der Wasserqualität beigetragen hat. Dazu kam, dass das Ereignis von den Behörden zunächst falsch eingestuft wurde, sodass der eigentlich für solche Situationen gedachte Gefahr- und Alarmplan der IKSO (Internationale Kommission zum Schutz der Oder gegen Verunreinigungen) nicht greifen konnte.
Frühwarnsystem und geringerer Salzgehalt gefordert
Um eine Wiederholung der Katastrophe zu vermeiden, empfahlen Expert*innen der Polnischen Akademie der Wissenschaften der polnischen Regierung dringend eine Reform der Wasserwirtschaft und eine stärkere Konzentration auf ökologische Belange. Hierzu gehöre die Erhöhung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Wasserwirtschaft, die Einführung klarer Regeln für die institutionelle Verantwortung, die Priorisierung von Renaturierungsmaßnahmen gegenüber der Entwicklung der Binnenschifffahrt sowie die Einberufung einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftler*innen und Expert*innen zur Ausarbeitung einer angepassten Wasserpolitik in Polen. Ohne eine Veränderung in der Wasserpolitik und ein effektives Kontroll- und Alarmsystem sei eine Wiederholung einer Katastrophe wie an der Oder nur eine Frage der Zeit.
Auch die Umweltorganisation Greenpeace, die eigene Untersuchungen vornahm, kam zu ähnlichen Ergebnissen und forderte die Einführung strengerer Grenzwerte für die Konzentration von Chlorid und Sulfid im Abwasser, das von Unternehmen in den Fluss geleitet und für den hohen Salzgehalt hauptverantwortlich ist. Zudem sollten die Genehmigungen für Bergbauunternehmen im Rahmen der Wasserrechtsverordnung sowie Umweltauswirkungen im Zusammenhang mit der Kohleförderung überprüft werden.
Polnische Regierung zeigt sich unbeeindruckt vom Urteil des Verwaltungsgerichts
Das polnische Infrastrukturministerium beabsichtigt jedoch nicht, die gerichtlichen Urteile umzusetzen und die aktuellen Baumaßnahmen zu stoppen. Der polnische Staatssekretär im Ministerium für Infrastruktur, Marek Gróbarczyk, erklärte in einer Pressemitteilung, dass die Arbeiten nicht gestoppt würden. Auch auf Twitter kommentierte er das Gerichtsurteil und erklärte: „Die Folgen einer nachlässigen Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts wären weitaus gefährlicher als die Fortsetzung dieser Investition.“ Jerzy Materna, Abgeordneter der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), kritisierte, dass ein fremder Staat in polnische Gewässer eingreife und das Gericht ohne Anhörung von Expert*innen zustimme.
Die Debatte um den Oderausbau zeigt einmal mehr, wie wichtig eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den Mitgliedsstaaten der EU in Umweltfragen ist. Denn der Schutz von Flüssen und Gewässern ist nicht nur eine nationale, sondern eine europäische Herausforderung. Ein positives Beispiel hierfür ist etwa die deutsch-polnische Initiative „Międzyodrze“, die sich dafür einsetzt, dass die gleichnamige 6.000 Hektar große Fläche zwischen zwei Flussarmen im unteren Odertal auf polnischem Gebiet offiziell zu einem Nationalpark ernannt wird, um die dort weitgehend unangetastete Natur zu schützen. Auch der Marsch für die Oder (Marsz dla Odry) zeigt, wie zivilgesellschaftliches Engagement wichtige Impulse in der Debatte setzen kann: Organisiert von Freiwilligen und Aktivisten des informellen Netzwerks "Plemię Odry" (Oder-Volk) führte die Aktion ab dem 20. April 2023 45 Tage lange von der Quelle bis zur Mündung des Flusses und beinhaltete am 6. Mai außerdem eine Kundgebung in Breslau (Wrocław).